Enquete-Kommission ländlicher Raum tagt in Iris Schülzkes Heimat Schliebener Land – Bürger und Unternehmer benennen Probleme
Nach ihrem Landtagseinzug musste Iris Schülzke (BVB / FREIE WÄHLER) nach 24 Jahren als Amtsdirektorin von Schlieben schweren Herzens an ihren Nachfolger Andreas Polz übergeben. Doch ihr Herz hängt weiter an ihrer Heimat. Hier hat sie den engsten Kontakt mit den Menschen. So schlug sie vor, die Tagung der Enquete-Kommission zur Zukunft des ländlichen Raums ins beschauliche Schliebener Land in Elbe-Elster zu legen. Die Mitglieder der Kommission sollten die Probleme der Menschen vor Ort aus erster Hand erfahren.
Schon bei der Fahrt durch den Ort merkt man, dass Schlieben anders ist als die Darstellung des ländlichen Raums Seitens der Landesregierung. Fast alle Häuser sind saniert und strahlen trotz Regenwetters in frischen Farben. Es gibt Läden im Ort. Die Straßen – in der Innenstadt meist als historische Pflasterstraßen hergerichtet – sind in gutem Zustand. In der Kita toben die Kinder, und die Schule platzt aus allen Nähten. Der Ort straft die Landesregierung Lügen, die stets den unumgänglichen Tod des ländlichen Raums an die Wand malt.
Dabei hatte Schlieben 1990 sogar einen besonders schlechten Start. Kaum ein Haus hatte einen Trinkwasseranschluss, geschweige denn eine Abwasserentsorgung. Mit verschmitztem Lächeln erzählt Iris Schülzke, wie kurz nach der Wende ein Fernsehteam des ZDF in das offene Abwasser fiel. Doch obwohl das Wasser- und Abwassersystem von Grund auf neu gebaut werden musste, bleiben die Kosten in Schlieben akzeptabel. Wie Iris Schülzke sagt, weil sie Ende der 90er Jahre anfing, die überzogenen Vorgaben der Landesregierung zu ignorieren. Denn die legen einen Wasserverbrauch zugrunde, der in der Realität im ländlichen Raum nie erreicht wird. So wurden andere Gemeinden dazu genötigt, die Anlagen weit größer zu bauen als notwendig – mit unnötigen Kosten, die nun über Wasserpreise und Anschlussbeiträge auf die Bevölkerung abgewälzt werden.
Die Enquete-Kommission tagt im Speisesaal der Grund- und Oberschule „Ernst Regal“. Jahrelang musste Iris Schülzke dafür kämpfen, dass die Schule erhalten bleibt. Denn die Landesregierung sagte voraus, dass es nicht genug Kinder geben würde. Heute muss die Schule Bewerbungen von Kindern ablehnen, da sie nicht genug Platz hat. Aus 46 Orten kommen die Kinder inzwischen. Offensichtlich hat die Landesregierung zu schnell zu viele Schulen geschlossen.
Besonders stolz ist man darauf, eine von einem Dutzend Brandenburger Pilotschulen im Bereich E-Learning zu sein. Auch dies ist zum großen Teil dem Einsatz von Iris Schülzke zu verdanken. Lehrerin Astrid Thiessenhusen präsentierte den Mitgliedern der Kommission die elektronische Tafel und die Schüler-Notebooks der Schule. So kann man Daten und auch Animationen weit besser anschaulich darstellen als mit Kreide auf einer Schiefertafel. Doch es ist nicht nur die Art der Präsentation. Dahinter stehen Datensammlungen und Datenverbindungen. So steht man mit einer ebenso ausgestatteten Partnerklasse im Norden Englands in Kontakt und lernt nebenbei englisch. Aufgaben und Vokabelsammlungen sind ebenso online verfügbar wie wichtige Termine der Schule oder Klassenfotos. Kranke Schüler können nun auch von zu Hause und auf Kur dem Unterrichtsstoff folgen oder diesen nachholen. Größtes Problem: In den Dörfern um Schlieben gibt es teilweise keine ausreichende Internetanbindung. Und auch in Schlieben selbst fällt das Internet immer häufiger aus.
Die nächste Station ist die Praxis von Allgemeinärztin Barbara Kneist, einer der beiden Ärztinnen in Schlieben. Beide sind schon über 60 Jahre alt, die Praxen gut besucht. Doch Nachfolger zu finden, ist schwer – vor allem, weil die Ärzte budgetiert sind und die Kassenärztliche Vereinigung keinen Bedarf sieht. Der Zusammenhang ist komplex und bedarf etwas Erklärung.
Im ländlichen Raum Brandenburgs ist der Anteil älterer Bürger deutlich höher als im Bundesdurchschnitt. Und diese älteren Bürger sind wesentlich häufiger krank und haben öfter chronische Krankheiten, bei denen kontinuierliche Versorgung nötig ist. So kommt es, dass es auf dem Papier eine Überversorgung hinsichtlich Ärzten pro Einwohner gibt, die Praxen aber real überlaufen sind. Nun sollte man meinen, dass dies ein Anreiz ist, die Praxen zu übernehmen. Schließlich gibt es viel zu tun. Doch im Gegenteil: Die Arztpraxen sind entsprechend der betreuten Zahl von Bürgern budgetiert. Wer mehr Behandlungen durchführt, als für die Bevölkerungszahl vorgesehen, muss mit finanziellen Abstrichen rechnen. Wer überproportional viele alte, kranke Patienten im Einzugsbereich hat, wird also bestraft.
Landesregierung und Kassenärztliche Vereinigung tun nichts dagegen und beschwören immer wieder die angebliche Überversorgung im ländlichen Raum – ein Vorwand, die Versorgung noch weiter zurückzufahren. Auf diese Weise wird bei den Alten im ländlichen Raum an der Gesundheitsversorgung gespart. Iris Schülzke verlangte hier Besserung. Benjamin Raschke (Grüne) wies später darauf hin, dass es real im ländlichen Raum eine deutlich niedrigere Lebenserwartung gibt als in Potsdam, also offensichtlich keine „Überversorgung“. Leider ist es unwahrscheinlich, dass Landesregierung und Kassenärztliche Vereinigung ohne breiten öffentlichen Druck einlenken.
Die nächste Station ist die Software-Firma LCS. Eine High-Tech-Firma, die Verwaltungsprogramme erstellt, hätte vermutlich kaum jemand im ländlichen Raum von Elbe-Elster erwartet. Laut Geschäftsführer Roland Kneist war gut ausgebildetes Personal der früheren DDR-Forschungseinrichtung zur Automatisierung der Landwirtschaft der Keim des Unternehmens. Von diesem „Kapital“ zehrte man in den ersten Jahren. Inzwischen wird es aber schwerer, qualifiziertes Personal zu finden. So hat man in Potsdam ein Büro eröffnet, um dortige Universitätsabsolventen in die Firma zu holen.
Fehlende digitale Infrastruktur ist das größte Problem des Unternehmens. Zur Betreuung der Kunden benötigt man eine Standleitung. Doch der Breitband-Anschluss endet 500 Meter vor dem etwas außerhalb von Schlieben gelegenen Firmengebäude. Seit Jahren kämpft man um den letzten halben Kilometer. Sogar die Kosten würde man selbst übernehmen – auf lange Sicht wäre es erheblich billiger als die Funk/Satellitenverbindung, mit der man aktuell arbeitet. Doch wie üblich erklärt sich jeder für „nicht zuständig“. Kneist nimmt kein Blatt vor den Mund. Statt Geld einzusetzen, um laufende, steuerzahlende Hotels abzureißen, sollte man sich lieber um Bildung und Infrastruktur kümmern.
Weiter geht es zur benachbarten Firma Vietzke Metall. Auch die Metallbaufirma, die vor allem Gerüste, Industrieanlagen und Hallendächer aus Stahl herstellt, liegt auf dem Gelände des früheren Forschungsinstituts. Gründer Erwin Vietzke suchte vor vielen Jahren eine Halle, um große Teile vorfertigen zu können. Iris Schülzke vermittelte eine leerstehende Halle, in der früher Prototypen für die Landwirtschafts-Automatisierung gebaut wurden. Später brauchte Vietzke Metall mehr Platz und hat die Halle inzwischen auf die dreifache Größe ausgebaut, auf die riesigen Dächer wurden Photovoltaikzellen montiert.
Auch in seiner Firma ist qualifiziertes Personal ein großes Problem, wie Geschäftsführer Thomas Vietzke schildert. Der Lohn ist angesichts der niedrigen Lebenshaltungskosten im Ort nicht schlecht, aber mit Siemens und anderen Großkonzernen kann Vietzke nicht mithalten. So kommt es vor, dass die Gesellen nach Erhalt des Gesellenbriefs die Firma verlassen. Daher wäre es gut, wenn die jungen Menschen vor Ort gehalten werden – durch familiäre Bindungen und Vertrauen darauf, dass Schule, Kita, Arzt und andere Einrichtungen im Ort bleiben. Auch die Straßenanbindung könnte besser sein, denn die Metallteile werden immer größer und lassen sich nur schwer durch enge Straßen transportieren.
Weiter geht es zu einem der landwirtschaftlichen Betriebe in Schlieben. Geschäftsführer Björn Förster empfängt uns auf dem Milchgut Kolochau. Man verkauft die Milch aber nicht wie üblich an Molkereien, sondern übernimmt selbst die Produktion und den Vertrieb von Milchprodukten. Somit ist man auch nicht so stark vom sinkenden Milchpreis betroffen, der anderen Milchbauern derzeit zu schaffen macht. Gleichzeitig wird aus Gülle, Mist und nicht mehr nutzbaren Futterresten Biogas und Strom gewonnen. Was übrig bleibt, landet als Dünger auf dem Feld. So entsteht ein geschlossener Kreislauf, bei dem fast kein Abfall anfällt.
Landwirte von heute sind keine ungebildeten Bauern, die nur eine Mistgabel bedienen können, sondern gut ausgebildete Fachleute. Als selbstbewusster Bauer ist Förster nicht gut auf die Landwirtschafts-Subventionen zu sprechen und hält sie zum großen Teil für überflüssig, vor allem die Flächenprämien. Sie erhöhen nur künstlich Preise und Pacht für landwirtschaftliche Flächen. Der Landwirtschaft selbst hilft es nicht, Subventionen einzunehmen und das Geld anschließend an Grundbesitzer weiterzureichen – im Gegenteil. Der ganze Subventionsdschungel und die damit verbundene überbordende Bürokratie frisst nur wertvolle Arbeitszeit, die man besser in die Produktion stecken sollte.
Als letzte Station besuchen wir die Pflegeeinrichtung der AWO. Klein und familiär ist sie, keine Masseneinrichtung. Nur zwei Dutzend Menschen leben hier, teilweise in Pflege, viele nur in betreutem Wohnen, fast alle aus Schlieben oder den umliegenden Dörfern. Man kennt sich, viele seit der Schulzeit. Neuester Standard bei der Pflege und Betreuung, nur die Terrasse soll noch erweitert werden, damit man sich mehr im Freien aufhalten kann, so Wolfgang Luplow von der AWO.
Problem der AWO sei der Mangel an qualifizierten Pflegekräften, der in ganz Deutschland zu spüren ist. Bisher übernahmen fast nur die Wohlfahrtsverbände die Ausbildung. Man würde gerne mehr ausbilden, doch die Ausbildung kostet viel Geld. Und das ist für den Verband verlorenes Geld, wenn die Pflegekräfte anschließend in private Pflegedienste wechseln. An der freien Wahl des Arbeitgebers will Luplow nicht rütteln, doch ausreichende finanzielle Unterstützung für die Ausbildung neuer Fachkräfte wäre angebracht. Der Bedarf ist da, folglich sollte mit öffentlichen Mitteln dafür gesorgt werden, dass offene Stellen auch mit den notwendigen Fachkräften besetzt werden können.
Auch bei der Bürgerfragestunde riss die Kritik an der Landesregierung nicht ab. Vieles, was zuvor schon in der Exkursion gesagt wurde, bestätigte sich. So wurde die Vernachlässigung der Kinderbetreuung und der Schulen im ländlichen Raum beklagt. Hier hatte die Landesregierung zu wenig Kinder eingeplant und nicht mit einem Zu- und vor allem Rückzug von jungen Familien gerechnet.
Aus Borkheide kam die Klage, dass die Gemeinden in ihrer Entwicklung eingeschränkt sind. Der Ort liegt an der Bahnstrecke und hat über den RE 7 eine bequeme Verbindung nach Berlin, in 43 Minuten ist man am Bahnhof Zoo. Entsprechend groß ist die Nachfrage potentieller Zuzügler. Grundstücke hätte man innerhalb der Stadtgrenzen genug. Doch schon eine einzelne Kiefer auf dem Gelände sorgt regelmäßig dafür, dass kein Haus errichtet werden darf.
Auch an den Gemeindestrukturen gab es Kritik: Die kleinen Ortsteile der Amtsgemeinden haben nichts zu sagen. Wird ihnen von der Verwaltung ein Windrad vor die Tür gesetzt, haben sie keine Einspruchsmöglichkeit. Von möglichen Einnahmen über Gewerbesteuer profitiert wiederum die Amtsgemeinde – an die betroffenen Anwohner fließt nichts zurück. Im Gegenteil. Der Winterräumdienst wurde in den abgelegeneren Ortsteilen eingeschränkt, obwohl die Bürger dort die gleichen Abgaben zahlen wie in den größeren Ortsteilen. Die Einwohner der Ortsteile der riesigen Kommunalgebilde wollen mehr Mitspracherecht und zumindest teilweise Kontrolle über die Finanzen. Etwas, das organisatorisch über die geplanten, immer größeren zentralistischen Amtsgemeinden jedoch nicht machbar sein wird. (BVB / FREIE WÄHLER setzt sich daher für den Erhalt der Ämter ein und ist gegen Zwangsfusion zu immer größeren amtsfreien Gemeinden.)
Zuletzt meldete sich noch Hanni Dillan (BVB / FREIE WÄHLER) von „Bürger für Bürger Schenkendöbern“ zu Wort. Sie kritisierte, dass die Dörfer im Umfeld der Braunkohle-Tagebaue noch immer auf die Schlichtungsstelle für Bergschäden warten. Diese wurde mehrfach von Regierungsvertretern versprochen, doch nie geschaffen. Somit werden die Tagebau-Anlieger vom Land alleingelassen. Sie müssen auf eigene Kosten nachweisen, dass ein Schaden durch den Bergbau entstand und diesen auf eigene Kosten vor Gericht einklagen. Für viele Betroffene ist dies finanziell nicht möglich. „Bürger für Bürger“ akzeptiert die Fortführung der Braunkohle-Tagebaue, aber daraus resultierende Schäden müss
en unbürokratisch ersetzt werden.