Ich bin zwar kein Europaabgeordneter, wie Herr Cramer es ist, aber ich darf auf ein Studium des Verkehrsbauwesens und auf eine 40-jährige Arbeit in diesem Bereich zurückblicken. Zudem haben Zeit meines Lebens Verkehrsbelange auch über den Baubereich hinaus mein Interesse eingenommen. Herr Cramer ist verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament mit Auskunftsmöglichkeiten, die nicht jeder hat, die er aber leider nicht für eine objektive Diskussionsgrundlage nutzt, sondern, um gezielt seine bzw. die Parteisicht der Grünen zu vermitteln.
Ich hoffe, im Folgenden zu etwas mehr Sachlichkeit beitragen zu können. Ob große Verkehrsinvestitionen wirtschaftlich sinnvoll sind, erweist sich erst nach Jahrzehnten. Zu gering ist unser Wissen, was in den Jahrzehnten nach uns von kleinem oder großem Wert sein wird. Die vielen in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts auf den Weg gebrachten Großinvestitionen Deutschlands, haben sich fast alle nicht innerhalb von 1 – 2 Jahrzehnten gerechnet, wie man heutzutage zu sagen pflegt. Vieles war damals im Kaiserreich auch militärisch motiviert und hat sich dann als großartige verkehrswirtschaftliche Anlage jenseits von Kriegsbelangen erwiesen. Ich denke da z. B. an den Nord-Ostseekanal, heute die meist befahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Ohne die Admiralität wäre der Bau nie zustande gekommen und heute wären die Grünen vermutlich die schärfsten Gegner eines Kanalbaues dieser Art.
Zum Thema Bahn zurück. Ohne die Neubaustrecken der letzten Jahrzehnte gäbe es bei der Deutschen Bahn keinen relevanten Fernverkehr. Nebenbei profitiert davon auch der Regionalverkehr im erheblichen Maße. Herr Cramer versucht darzulegen, dass die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm ungeeignet für einen Güterverkehr wäre und das will er an Hand der großen Steigungen bei der Fahrt über die Alb beweisen. Will er noch mehr und längere Tunnel oder soll es weiter bei Serpentinenbahnen bleiben, wie es die bestehende Filstalstrecke ist? Die Topographie ist nun mal vorgegeben. Noch mehr Tunnel müssen ja nicht sein, die modernen Loks verkraften inzwischen größere Steigungen besser als viele enge Radien, eine Serpentinenbahn wäre also das Letzte, was man bräuchte. Davon gibt es in Deutschland reichlich. Sie sind inzwischen romantisch in das Gelände eingewachsen, aber eisenbahntechnisch sind sie von großem Übel und fast nirgendwo aus planrechtlichen Gründen verbesserbar. Sie lassen nur geringe Geschwindigkeiten zu und das bei hohem Verschleiß und die meisten Anwohner würden drei Kreuze machen, wenn wenigsten ein Teil des Verkehrs(Lärms) auf Neubaustrecken verlegt würde. Diese eignen sich durchaus auch für den Güterverkehr trotz großer Steigungen. Die meisten Güterzüge sind nämlich gar keine schweren Züge, die Zeit der Montanindustrie ist nämlich vorbei, den massenhaften Transport von Bergbauprodukten in der Relation gibt es schon lange nicht mehr. Containerzüge sind zum Einen bezüglich der Achs- und Meterlasten Leichtzüge und überlange Zugeinheiten, wie in Skandinavien oder anderen noch größeren Ländern angeblich wirtschaftlich betrieben, lassen sich aus Signal- und Weichenabstandsgründen (Bahnhofsgleislängen) ohnehin nicht in das deutsche Bahnsystem integrieren. Ich staune, daß Herr Cramer sich für Gigalinersysteme stark macht. Das ist doch sonst ganz gegen seine Art. Also die ganze vorgebrachte Argumentationskette ist nicht nur dünn sondern sogar irreführend falsch.
S21 und die Neubaustrecke sind zwar getrennt denk- und ausführbar, aber sind doch irgendwie mit einander verkettet. Stuttgart 21 assoziiert bei den meisten Bürgern des Landes nur den Neubau des neuen Hauptbahnhofes im Alten. Tatsächlich wird der ganze Bahnknoten Stuttgart völlig neu geordnet. Von den Grünen wurde auch dort immer wieder die Leistungsfähigkeit es künftigen Bahnhofes in Frage gestellt. Demnach sollen 8 Durchgangsbahnhofsgleise (8 Bahnsteigkanten) nicht die verkehrliche und betriebliche Leistung von 16 Kopfgleisen (Bahnsteigkanten) ermöglichen. Das Gegenteil ist der Fall, wenn seitens der Gleiszuführung vor und nach dem Bahnhof die Voraussetzungen stimmen, lassen sich bei halber Bahnsteigkantenzahl doppelt so viel Züge abfertigen (siehe Köln Hbf. und alle deutschen zentralen S-Bahnsysteme). Damit das An- und Abfahren gut funktioniert, ist es notwendig, weit mehr als einen neuen Bahnhof zu bauen. Stuttgart wird nach Realisierung des Programms den modernsten Bahnknoten Deutschlands haben. Das wird sich über viele Jahrzehnte auszahlen. Natürlich ist der Gesamtaufwand immens und es ist die Frage nach der Angemessenheit der Gesamt- sowie der Teillösungen zu stellen.
Eine Verlegung des Hauptbahnhofes nach Bad Cannstatt, nur gut 2 km vom jetzigen Standort entfernt, also noch zentrumsnah und zentrumsverbunden, hätte die Kosten für das Vorhaben S21 möglicherweise halbiert, zumindest um 1/3 vermindert. Der Bahnhof Bad Cannstatt hat gegenwärtig 8 Bahnsteigkanten. Eine Generalsanierung dieses Bahnhofes hätte gereicht, um für Stuttgart eine verkehrsbedarfsgerechte Lösung aufzubereiten. Die Neuordnung des Gesamtknotens wäre auch von dieser neuen Zentralstelle mit erheblich geringerem Aufwand machbar gewesen. Aber das hätte den Stuttgartern wohl auch nicht so richtig gefallen, schließlich wollen sie weiterhin direkt vom Hauptbahnhof in die Königsstraße oder in den Schlossgarten fallen. Zweckmäßigkeitserwägungen sind oft nicht ausschlaggebend. Das Verlangen nach Luxus, Extravaganz und Schönheit wiegt eben oftmals mehr als das das nach wirtschaftlicher Effektivität. Gönnen wir es den Stuttgartern, auch wenn es nicht jeder zu schätzen weiß. Königsstrasse und Schlossgarten sind eben doch eine ganz andere Pforte als die Cannstatter Wiesen.
Horst Tschaut
Mitglied im Bahnkundenverband, im Nahverkehrbeirat Oberhavel und Verkehrspolitischer Sprecher von BVB/FREIE WÄHLER